„Fräulein Fuhr, Sie haben Hummeln im Hintern!“ Wenn sich Lisa Fuhr an den Kommentar ihrer Chefin erinnert, blitzen ihre Augen vor Vergnügen. Aus heiterem Himmel hatte die damals 29-Jährige ihren schönen Job bei einem Münchner Verlag gekündigt. „Es war eine tolle Stelle, ganz wunderbar“, erzählt sie rückblickend. „Aber ich hatte einfach das Gefühl, ich kann nicht irgendwann zurückblicken, und habe bis dahin immer nur eine Sache gemacht.“ Die Cheflektorin sollte mit ihrer Einschätzung recht behalten: Mutige berufliche Entscheidungen traf Lisa Fuhr in ihrem Leben immer wieder.
Ihre Leidenschaft gilt den Menschen
Viele Jahre arbeitete sie als Dozentin am Goethe-Institut, reiste durch die Welt, schockte ihre Freunde mit dem Entschluss, auch diese Festanstellung aufzugeben und fortan freiberuflich zu arbeiten, fertigte Übersetzungen für Fernsehsender und Untertitelfirmen an, fotografierte Frauen in Mexiko und Italiener in München, krempelte mit Anfang sechzig den Deutschunterricht an einer Gehörlosenschule um und war mit ihrer Kamera in vielen Ländern unterwegs. Ihre Leidenschaft galt vor allem den Menschen, die ihr begegneten – in Georgien, auf Zypern oder in kleinen Münchner Läden.
Auf der Suche nach dem Bildband „Mein Laden – mein Leben“, den sie 2005 zusammen mit der Autorin und Filmemacherin Ursula Jeshel herausgebracht hatte, landete ich an einem kalten Januartag in einem Hinterhof in der Türkenstraße. Eine kleine Treppe führte vom Innenhof ins Souterrain zum icon Verlag. Als ich die Glastür hinter mir zuzog, fühlte ich mich wie Alice im Wunderland.
Vor mir eröffnete sich ein Kuriosum an Bildern, Büchern, skurrilen Kunstobjekten und endlos erscheinenden Regalreihen, deckenhoch. Mehr als 88.000 Künstlerpublikationen aus fünf Jahrzehnten sammelt, archiviert und dokumentiert der Verleger, Künstler und Kunstpädagoge Hubert Kretschmer in seinem AAP Archive Artist Publications. Eine Fundgrube für Menschen, die sich für die sogenannte „Grauliteratur“ interessieren. Meist schnell und billig produzierte Heftchen, Flugblätter, Programmzettel oder Plakate, die verteilt wurden und in kaum einer Bibliothek zu finden sind. „Grau wie fast nicht sichtbar‘“, erklärt Hubert Kretschmer. „Nur wenn man zur Szene gehörte, kam man da dran.“
Einige Wochen später bin ich wieder hier und sitze seiner Frau Lisa Fuhr gegenüber. Seit vielen Jahren teilen die beiden ihre Leidenschaft für die Kunst, für das Machen und das Tun. Wenn irgendwo eine interessante Geschichte aufpoppte, eine Idee, machten sie gemeinsam ein Projekt daraus. Fotoausstellungen, Recherchereisen, Bücher.
“Die Strumpf-Tante kannte ich schon als Kind”
Auf dem langen Couchtisch vor uns liegt aufgeschlagen der Laden-Bildband, mit Hutmacherin Nicki Marquardt auf dem Titel. Die Porträts fangen ein Stück Zeitgeschichte ein, sie erzählen Geschichten von Aufbruch und Neuanfang, Tradition und Träumen. Auch von Abschied. In Schwabing aufgewachsen, erlebte Lisa Fuhr diese Veränderungen über Jahrzehnte hinweg aus nächster Nähe. Von einem der Fotos lächelt uns Charlotte Timmins hinter der Theke ihrer Hohenzollern-Drogerie freundlich an. Der wachsenden Übermacht großer Ketten standhaft trotzend, setzte die Geschäftsfrau auf extravaganten Haarschmuck, mit viel Glitzer und Chichi. In ihrer Freizeit spielte sie Tennis und fuhr einen Sportwagen.
„Der Blick hinter die Kulissen, das hat mich schon immer interessiert“, sagt Lisa Fuhr. Sie blickt auf ein großformatiges Bild an der Wand gegenüber, es zeigt eine Straßenszene in Tiflis. Prächtige Gebäude spiegeln sich im Schaufenster, der Blick einer Passantin bleibt an drei Festtagsroben hängen, die farbenfroh zwischen Pudelmützen und Dessous aufleuchten. Mit ihren Fotos und Texten zeigt die Münchner Fotografin ein Land im Umbruch, zwischen sozialistischem Charme, alter Pracht und modernem Leben. Auf mehreren Reisen führte Lisa Fuhr intensive Gespräche mit georgischen Künstlern, Managern und Büroleiterinnen, Handwerkern, einer Kinderfrau oder dem „Mann für alles“ in der Augenklinik. Ihre Porträts zeichnen die Lebenswege von Menschen nach, die sich in einer extrem schwierigen Zeit zu behaupten hatten. In meinen Händen liegt der von Hubert Kretschmer verlegte Bildband, mit dem sie 2018 auf der Frankfurter Buchmesse waren. In München, Saarbrücken, Bremen und Berlin organisierten sie Ausstellungen und Videopräsentationen, Konzerte und Lesungen, unterstützt von einer sehr lebendigen georgischen Community.
Bewahren, zeigen, ins Gespräch bringen – darum geht es den beiden bei allem, was sie tun. Seit mehr als vierzig Jahren kommt Hubert Kretschmer jeden Tag in sein Archiv, packt Sendungen aus, beschreibt neue Sammlungsstücke und registriert sie im öffentlich zugänglichen Online-Katalog OPAC. „Du bist eigentlich gar kein Archivar“, sagt seine Frau, und legt ihm sanft die Hand aufs Knie. Er lacht. „Ne. Das bin ich nicht. Der Archivar archiviert. Und das sollten dann möglichst wenig Leute sehen, damit nichts beschädigt wird.“ Das ist ihm fremd. Hubert Kretschmer kauft auch Sachen, die kaputt oder zerfleddert sind. Ihm geht es vor allem ums Sichtbarmachen. „Ich will ja, dass die Leute sehen, was der Warhol in den 60er Jahren alles Verrücktes gemacht hat.“ Besuch ist ausdrücklich erwünscht.
“Mich interessieren Sachen, die politisch relevant sind”
Kunsthistoriker, Studierende, Museumsleute sitzen bei ihm auf der Couch, blättern in seinen Schätzen hin und her, lesen und notieren, machen Fotos und verbringen gerne auch mal mehrere Arbeitstage bei ihm unten im Souterrain. Schulklassen erfahren, welche künstlerischen Ausdrucksformen es gibt und wie sich mit einfachen Mitteln eine Botschaft verbreiten lässt. „Es ist ein bisschen wie Punk“, sagt Kretschmer. „Man will Musik machen, nimmt die Gitarre und haut drauf.“ Druckt Aufkleber, zum Beispiel, oder tackert kleine Heftchen zusammen. Diese sogenannten Zines sind in der Kunstwelt gerade sehr angesagt. Der Kunstpädagoge zeigt den Klassen auch einige Hefte, die während der Unruhen in Hongkong oder des Arabischen Frühlings verteilt wurden. Versucht ihnen zu vermitteln, dass gedruckte Medien in einem Zeitalter digitaler Überwachung immer wichtiger werden können. Papier hinterlässt nicht so leicht Spuren.
„Das Archiv ist eigentlich eine Skulptur, an der ich da arbeite“, sagt Hubert Kretschmer, der immer auch Künstler geblieben ist. „Wie bei einem Kunstwerk kommt da immer wieder so ein Stück Ton irgendwo dran. Und dann modelliert man und schließlich ist etwas entstanden, von dem man gar keine Ahnung hatte, woher es kommt, und das man auch nie angestrebt hat. Irgendetwas entsteht und wächst.“ Für dieses organisch gewachsene Kunstwerk eine praktikable Lösung für die Zukunft zu finden, darum geht es jetzt.
Fotos: Gunda Achterhold