„Gezaubert wird im nächsten Leben!“
Carola Sonnenburg, Erzieherin, Bürokauffrau und Schneiderin
O´zapft is! Und wie in jedem Jahr zum Oktoberfest dirndelt es in den Münchner U-Bahnen und Straßen wieder ganz kräftig. Der Hotspot des Trachten-Treibens ist vom Glockenbachviertel zwar weit genug entfernt. Die Vorboten des Mega-München-Events habe ich jedoch schon seit Wochen fest im Blick: Von meinem Schreibtisch aus sehe ich direkt ins Schaufenster von Carola Sonnenburg, auf ihre Dirndl, Trachtenblusen oder Schürzen in wechselnden Arrangements. Hier, in der kleinen Schneiderei, fängt die Wiesn-Zeit schon im Frühjahr an, wenn die ersten Teile entworfen und genäht werden. Jetzt, in der heißen Phase, fallen selbst die Zigarettenpausen immer kürzer aus. Ein paar Minuten auf der kleinen Stufe vor dem Laden und schon wirft sich Carola Sonnenburg das Maßband wieder um den Hals. Von meinem Platz am Fenster aus habe ich beobachten können, wie sehr sich ihr Geschäft verändert hat. Vor zweieinhalb Jahren wechselte die Schneiderin den Standort und mietete das Ladenlokal in der Jahnstraße an – „mit Bauchschmerzen!“. Die sind weg.
Ein azurblauer Kaschmirpullover mit Mottenloch führte mich zum ersten Mal über die Schwelle. Das Ergebnis löste in mir ein tief empfundenes Gefühl von Dankbarkeit und respektvolles Staunen aus. Mit der Zeit entdeckte ich in dem kleinen Laden immer wieder neue Dinge: Mieder, Hüte, Accessoires aus Glasperlen oder historische Kostüme. Alles selbst gemacht. Das weckte meine Neugier. „Angefangen habe ich mit Änderungen, ganz klassisch“, erzählt Carola Sonnenburg, während sie einen Frack auftrennt, der eine Nummer zu groß gekauft worden ist und partout nicht sitzen will. Die in Leipzig aufgewachsene Sächsin näht seit ihrem 13. Lebensjahr. Die Oma lag nach einem Schlaganfall im Bett und rief der Enkelin rüber, was sie tun sollte. „An einer alten Tretmaschine habe ich aus Bettlaken Kleidung gemacht“, sagt die heute 50-Jährige. „So habe ich nähen gelernt.“
Nach der Schule entschied sie sich für eine Fachschulausbildung zur Erzieherin. „In der DDR waren Schneidereien in Produktionsgesellschaften organisiert – in ganz Leipzig gab es nur eine Ausbildungsstätte“, erzählt sie. „Da standen mir die Kinder doch näher.“ Sie wurde früh Mutter, nähte ihren Kindern Kleidung, die es sonst nur auf Zuteilung gab, arbeitete bei der Post, zog als Alleinerziehende vier Kinder groß und ging Ende der 90ziger als Sachbearbeiterin der Telekom nach München. Als ihr erstes Enkelkind auf die Welt kommt, übernimmt sie die Betreuung der Kleinen und nutzt die Zeit, um sich Schnittmuster und Fertigungstechniken zu erarbeiten. Dann fällt 2004 die Meisterregelung: „Ich schnappte mir meine Nähmaschine, mietete mich in einer Reinigungsfirma ein und nahm Änderungsarbeiten an.“
Bauchlandung am falschen Standort
Dieser erste Schritt in die Selbstständigkeit ging gründlich schief. „Ich war unerfahren und habe mich ausnutzen lassen“, stellt sie rückblickend fest. Nach zehn Monaten war Schluss. Mit viel Wut im Bauch durchforstete Carola Sonnenburg die Kleinanzeigen und fand ein Ladenlokal in Pasing. Dieses Mal ging sie strategischer vor. Die Gründerin sprach kleine Designerfirmen an und übernahm Serviceaufträge: „Zehn Blusen, in drei verschiedenen Größen, nach Muster genäht, immer knapp und kurzfristig.“ Der Laden lief gut, Carola Sonnenburg beschäftigte eine Näherin aus Ungarn und eine Studentin von der Modeschule. „Wir waren ausgebucht, unsere Kapazitäten waren erschöpft.“ Gemeinsam mit einer Geschäftspartnerin eröffnete sie einen zweiten Laden in Aubing. „Das war ein Fehler!“, sagt sie. Dieses Geschäft ging von Anfang an schlecht. „Das Umfeld war nicht günstig, es fehlte dort einfach die Kaufkraft.“ Nach acht Wochen stieg die Partnerin aus. „Ich hatte vier Angestellte, kam aus dem Mietvertrag nicht mehr raus und musste beide Läden ein Jahr lang alleine schmeißen.“
Der Neuanfang im Glockenbachviertel hat Mut gekostet. Von ihrer Vorgängerin übernahm sie nicht nur den Laden, sondern auch den Mann. Der hatte sich in den hinteren Räumen eine Glasperlenwerkstatt eingerichtet. „Die hätte er aufgeben müssen“, sagt Carola Sonnenburg. Also hat sie sich getraut. Die 50-Jährige ist eine energische Person, ungeschminkt, die blonden Haare streng zurückgebunden. Sehr liebevoll im Umgang mit der jüngsten Tochter, die nach der Schule den Laden putzt. Und sehr direkt im Umgang mit Kunden. Wer mäkelt und überzogene Ansprüche stellt, hört von ihr nur ein trockenes „Zaubern kommt im nächsten Leben!“. Sie kann es sich leisten. „Ich habe einen Status erreicht, wo ich sagen kann: Ich würde keinen Kunden behalten, der nicht zufrieden ist“, sagt die Schneiderin. „Das empfinde ich als einen Riesenluxus.“
Weiche Knie am Anfang, Superkunden heute. Was ist passiert? Auch in der Jahnstraße fing Carola Sonnenburg mit Änderungsarbeiten an. Doch nach einiger Zeit stellte sie fest, dass die Klientel an ihrem neuen Standort ganz andere Wünsche hat. „Zu mir kommen junge Frauen, die sich von mir Kleider für ihre Brautjungfern machen lassen oder auch Kundinnen aus dem Business“, erzählt die Schneiderin. „Die geben zum Beispiel einen klassischen Bleistiftrock in Auftrag, den sie so nicht im Laden finden.“ Nach und nach fing sie an eigene Sachen zu entwerfen und ins Fenster zu stellen. Etuikleider, T-Shirts mit dem gewissen Etwas oder ganz klassische Stücke. „Daraufhin kamen immer mehr Anfragen nach Anfertigungen“, sagt sie und lächelt. Heute berät sie Kunden viel stärker als früher. „Und das sehe ich auch als meine eigentliche Aufgabe an: Dinge zu sehen, die der Kunde nicht sieht.“ Aus einfachen Nesselstoffen näht die Schneiderin Modelle – und sie liebt es, sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen. „Etwa zehn Änderungen arbeite ich am Tag ab, und die zahlen mir bis heute die Miete“, stellt sie fest. „Aber danach kann ich mich den schönen Dingen des Lebens widmen.“
Zu den schönen Dingen zählen auch Kostüme aus den Jahren 1860 bis 1910. Eine private Leidenschaft, die ihr die Bekanntschaft zu einer Korsettmacherin einbrachte. Jutta Burghardt hat ihre Lederwerkstatt inzwischen in der Jahnstraße eingerichtet und arbeitet tageweise in der Schneiderei. „Ich brauche einen Partner, der mich hier unterstützt und auch mal vertritt“, betont Carola Sonnenburg. Die beiden teilen die Begeisterung für Kostüme, waren im September zum wiederholten Mal bei der Historischen Jagd- und Kutschen-Gala in Schleißheim dabei – und sind sehr gut darin, gemeinsam neue Geschäftsverbindungen aufzutun. Sie gehen zum Stammtisch ausgewiesener Korsettträger oder zum Tag der offenen Tür beim Cowboy-Club. „Das war total lustig“, sagt Carola Sonnenburg. Ihr ist aber auch sehr klar, dass vieles über Mundpropaganda und Empfehlungen läuft. „Es ist wichtig, dass man sich seine Zielgruppe auch sucht und offensiv darauf zugeht.“
Sprung über den eigenen Schatten
Seit mehr als zehn Jahre arbeite ich in unserem Journalistenbüro in der Jahnstraße – in dieser Zeit habe ich viele Läden entstehen und untergehen gesehen. Im angesagten Glockenbachviertel sind die Kosten einfach sehr hoch. Auch Carola Sonnenburg hat sich schnell gefragt, wie sie das erwirtschaften soll. Und man kann sagen: Die Notlösung eröffnete ihr neue Perspektiven. Sie vermietete einen Raum unter, erlebte zunächst wieder ein kleines Fiasko und kam schließlich mit einer Kostümbildnerin zusammen, die ihr gut zuredete, es einfach mal zu probieren. „Theater, Bühne, das reizte mich schon immer sehr“, sagt Carola Sonnenburg. „Aber da hatte ich wirklich Angst vor meiner eigenen Courage.“ Ihre Kollegin setzte sich durch: “Und jetzt schreiben wir Bühnen an”, insistierte sie, “ich sag dir, wen du ansprechen kannst.” Inzwischen hat Carola Sonnenburg schon mehrfach fürs Theater gearbeitet. Und stellt fest, dass man dafür manchmal einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein muss. Beim Münchener Volkstheater sprang sie ein, als die Kostüme für den „Nathan“ nicht rechtzeitig fertig wurden.
Manchmal pfeift Carola Sonnenburg aus dem letzten Loch, vor lauter Arbeit. „Aber ich habe eigentlich keine krätzigen Kunden mehr“, sagt sie. „Und wenn ich durchs Viertel gehe, sehe ich viele bekannte Gesichter.“ Letztens kam ein bekannter Sportmoderator in ihren Laden – „Ich dachte, die Stimme kennst du doch!“ Auch das war gut fürs Selbstbewusstsein. Einen Teil der Meisterschule und den Ausbilderschein hat sie aber doch noch gemacht, abends und am Wochenende. „Ich wollte es für mich, als Bestätigung“, sagt Carola Sonnenburg und fährt mit dem Bügeleisen liebevoll über den Frack. „Es sollte mal einer drüberschauen, ob ich es wirklich kann.“
Fotos: Gunda Achterhold