Frauenzimmerl

Wenn man etwas sehr lange macht, entsteht manchmal der Wunsch nach etwas Neuem. Viele Jahre lang begleitete Ingrid Stocker Kinder in ihrer Entwicklung, die oft mit Beeinträchtigungen unterschiedlichster Art zu kämpfen hatten. Eine erfüllende Aufgabe, aber auch fordernd. Als die Heilpädagogin selbst Mutter wurde, wuchs der Wunsch nach Veränderung. „Ich wollte etwas machen, das sich leicht anfühlt“, sagt sie, und schaut hinüber zu einer Kinderzeichnung. Seit zehn Jahren lehnt das Bild auf einem schmalen Bord an der Wand, zwischen einem Kleiderständer und der Ladentür. Es zeigt eine Frau mit braunem Haar in einem mit Buntstift gemalten Haus, umgeben von Schneiderpuppen, Garnspulen und Kleidern. In den Händen hält sie zwei winzig kleine, bunte Blusen. „Meine Tochter wusste vor mir, was ich wollte“, sagt Ingrid Stocker mit einem Lächeln. „Das ist mir erst viel später aufgefallen.“

Bei ihr selbst war es eher so ein Sehnen. Nach etwas Eigenem. Nach mehr Selbstbestimmung. Bei einem Bummel durchs Westend kam sie an einem Laden vorbei, der Verkäufer saß mit einem Kaffee draußen auf einer Bank. „Da wusste ich, das will ich auch!“

Ein Zimmerl im Klinikviertel

Ein Stück vom Glück: Mit ihrem “Frauenzimmerl” erfüllte sich Ingrid Stocker den Traum von einem eigenen Laden.

Bei schönem Wetter nimmt sie sich nun selbst gerne ihren Schemel und setzt sich auf den Bürgersteig, neben die Kleiderstangen mit den Sonderangeboten. Ingrid Stocker verkauft in ihrem „Frauenzimmerl“ Kleidung aus zweiter Hand. Gut erhaltene Mäntel, Röcke, Hosen, T-Shirts oder Blusen finden hier neue Besitzerinnen. „Es ist wirklich ein Zimmerl“, sagt die aus der Rosenheimer Region stammende Ladenbesitzerin und schaut sich um. Dünne Metallseile halten hölzerne Stangen, die als Kleiderständer dienen. Ein großer blauer Schrank mit schöner Patina steht mitten im Raum – Blickfang und Raumteiler zugleich. Bunte Schals hängen duftig über einer der geöffneten Glastüren. Das farbenfrohe Stück erinnert an die Anfänge, als sich Ingrid Stocker mit dem Verkauf von Vintage-Möbeln und Deko selbstständig machte. „Irgendwann hatte ich zu Hause meinen Schrank aufgeräumt und einen Ständer mit der Kleidung hier im Geschäft aufgestellt“, erzählt sie. Das kam gut an. „So hat sich alles im Tun entwickelt.“

Das Frauenzimmerl liegt  an der Pettenkoferstraße, mitten im Klinikviertel zwischen Goetheplatz und Sendlinger Tor. Wenn Ingrid Stocker mit ihrer Tasse vor dem Schaufenster sitzt, sieht sie viele Menschen auf der breiten Fahrradspur an ihr vorbei Richtung Hauptbahnhof radeln. Immer wieder kommen Frauen in ihren Laden, den Fahrradhelm unter dem Arm, und stellen fest: „Ich fahre so oft bei Ihnen vorbei – jetzt muss ich doch mal schauen, was es hier alles so gibt!“

Zu schauen gibt es viel, auch zu bewundern. Denn die wenigen Quadratmeter Raum bespielt Ingrid Stocker sehr geschickt. Eine locker am Kleiderständer befestigte Schlaufengardine verwandelt das Eck neben dem Schrank in eine Umkleide. Auf einem Tischchen, an dem die Ladeninhaberin Ware auszeichnet, beherbergt ein rosa Puppenköfferchen eine Auswahl ihrer Lieblingstees. Auf einem Bord daneben steht ein kleiner Wasserkocher. Alles sehr minimalistisch und hübsch anzusehen.

Vintage-Mode, Deko und Accessoires

Die Mischung aus Möbeln, Deko und Kleidung hat sie beibehalten: Von Ohrsteckern im Setzkasten bis zum Service mit Goldrand im Schaufenster lassen sich im Frauenzimmerl viele nette kleine Accessoires finden.  An den Kleiderstangen lugt zwischen molligweichen Strickjacken, klassisch geschnittenen Hosen und locker fallenden Blusen auch schon Frühlingsfarbenes hervor, violett oder in einem zarten Grün. Einen Teil der Ware kauft Ingrid Stocker neu zu, immer passend zur Saison.

 

Während ich hinter der Gardine verschwinde erzählt sie, wie aus dem ehemaligen Blumengeschäft ein Secondhandladen wurde. Völlig unbefangen sei sie an die ganze Sache herangegangen, sagt Ingrid Stocker. Und ich höre sie förmlich den Kopf über sich selbst schütteln. „Aber sonst hätte ich mich wahrscheinlich auch nicht getraut.“ Mit dem kleinen Laden erfüllte sie sich selbst einen Traum. Nebenbei absolvierte sie eine Ausbildung in der Kunst- und Gestalttherapie. “Aus dem Malen habe ich schon immer meine Kraft gezogen”, erzählt sie. “Es war mir wichtig, mich auch in dieser Richtung weiterzuentwickeln.”

Mut, und auch Beharrlichkeit, hat die gelernte Heilpädagogin in den letzten zehn Jahren reichlich bewiesen. Vor allem während der Corona-Zeit lernte sie die Schattenseiten der Selbstständigkeit kennen. Nicht nur die Lockdowns waren ein harter Schlag ins Kontor, auch die Folgen der Pandemie spürt sie noch immer: „Früher kamen viele Frauen einfach so in der Mittagspause oder nach der Arbeit vorbei, das hat sich völlig verändert.” Zwei, drei Tage im Homeoffice sind in vielen Firmen üblich geworden, die Zeit zum Bummeln wird da knapp. “Das merke ich sehr.“

Bereut sie es manchmal, sich in das Abenteuer der Selbstständigkeit gestürzt zu haben? Die Antwort kommt ohne Zögern: „Nein. Es ist nicht immer leicht, aber wenn ich hier in meinem Laden stehe, ist mir klar: Ich bin genau am richtigen Ort.”

 

Das “Frauenzimmerl” in der Pettenkoferstraße 32 ist unter der Woche in der Regel zwischen 13 und 17 Uhr geöffnet. Ingrid Stocker ist unter 0179 6086677  telefonisch zu erreichen.

 

Fotos: Gunda Achterhold

Ein Gedanke zu „Frauenzimmerl

  1. Ariane Erdelt

    Liebe Gunda,

    Schön ge/beschrieben.
    Ich meine, ich kenne den Laden, hab schon öfters beim Vorbeiradeln angehalten und das ein oder andere bei ihr gekauft.

    Nice!
    Viele liebe Grüße!
    Ariane

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