1000 Zufälle

“Man bekommt so viel zurück!”

Ihren Traumjob musste sie aufgeben, dann gründete sie ein Geschäft. Heute arbeitet Sabine Füchtenhans in der Altenpflege – und ist damit glücklich.

Der Traum vom eigenen Laden endete für Sabine Füchtenhans nach 16 Jahren. Klein und fein war ihr Angebot, mit dem sie sich Mitte der Neunziger selbstständig gemacht hatte, in bester Lage, direkt am Marktplatz im westfälischen Warendorf. Die Einzelhandelskauffrau setzte auf Klasse und baute sich mit Anfang dreißig ein Modegeschäft auf, in dem sie hochwertige und exklusive Labels führte. Das Konzept ging auf. Doch in den letzten Jahren wurde es von Tag zu Tag schwieriger, Umsatz zu machen. „Danke für die Beratung, ich kaufe es im Internet“, immer häufiger verabschiedeten sich Kunden nach intensiver Beratung und kauften die Ware im Netz. „Manche legten die Kleidung auch direkt auf die Theke und fotografierten das Etikett mit dem Warencode ab“, erzählt Sabine Füchtenhans und schüttelt den Kopf.  Nach drei Wochen Urlaub in 16 Jahren und unendlich vielen Sieben-Tage-Wochen reichte es ihr: Sie schloss die Tür zu ihrem Modegeschäft ein letztes Mal hinter sich zu und wandte sich einer neuen, ganz anderen Aufgabe zu.

Heute beginnt ihr Arbeitstag mit dem Frühstück: Jeden Morgen unterstützt sie die Senioren, die in die Tagespflege St. Magnus in Everswinkel kommen, beim Brötchenschmieren und hilft ihnen beim Trinken. „Viele unserer Gäste sind dement, eine feste Tagesstruktur ist für sie sehr wichtig“, betont die 51-Jährige. Seit fast fünf Jahren arbeitet Sabine Füchtenhans als Pflege- und Betreuungsassistentin in der Altenpflege. Und das so richtig gerne. „Die Arbeit ist wirklich anstrengend, sowohl körperlich als auch physisch, aber man bekommt eben auch wahnsinnig viel zurück.“ Sie kennt die Geschichten der Besucher, viele erzählen immer wieder von ihren Erlebnissen im Krieg, von Bombennächten und den Entbehrungen der Nachkriegszeit. „Diese ganzen schlimmen Erfahrungen kommen jetzt, am Ende ihres Lebens, alle wieder hoch“, beobachtet sie. Gemeinsam mit drei Kolleginnen kümmert sich die Pflegeassistentin um zwanzig Tagesgäste. Sie hört ihnen zu, macht mit ihnen kleine Spaziergänge durch den Garten, begleitet zur Toilette, lagert zum Mittagschlaf und denkt sich immer wieder neue Beschäftigungen aus, vom gemeinsamen Backen bis zum Pflanzensäen im Gewächshaus.

“Eigentlich wollte ich Goldschmiedin werden!”

In der Tagespflege kümmert sich Sabine Füchtenhans um Besucher wie den ehemaligen Drogisten und Geschäftsmann Josef Serries.

An diesem Vormittag moderiert sie eine kleine Gesprächsrunde zum Thema “Hobby und Beruf”. Die Senioren staunen nicht schlecht, als Sabine Füchtenhans an die Reihe kommt. Klein, zierlich, in hellen Chucks und weißer Hose plaudert sie mit ihnen über ihren eigenen Berufsweg und erzählt von den „tausend Zufällen“, die sie dorthin geführt haben wo sie jetzt ist. „Denn eigentlich wollte ich immer Goldschmiedin werden!“

Und sie wurde es auch. Schon als Kind hatte Sabine Füchtenhans sehnsüchtig in die Schaufenster eines Goldschmiedes geschaut. All die schönen Schmuckstücke – so etwas wollte sie auch machen! Direkt nach dem Abi bewarb sie sich, doch da gab es einen Haken: Der Chef wollte unbedingt, dass sie vorher bei ihm eine Lehre zur Einzelhandelskauffrau machte, darauf beharrte er. „Das schadet Ihnen nie!“, versicherte er der jungen Bewerberin. Er sollte recht behalten. „Rückblickend war es ein Segen, dass ich zweigleisig gefahren bin“, sagt Sabine Füchtenhans. Nach der kaufmännischen Lehre wechselte sie zunächst glücklich zwischen Werktisch und Verkauf hin und her. Noch heute leuchten ihre Augen wenn sie erzählt, wie sie im Laden ihr allererstes Werkstück über die Theke reichte. „Ich hatte es wirklich selbst gemacht, meine Finger waren noch ganz wund von der Arbeit – das war ein ganz tolles Gefühl!“ Doch das Schicksal wollte es anders: Kaum war die Lehre abgeschlossen, entwickelte die Goldschmiedin eine Allergie gegen Silber und Polierstaub. An eine weitere Tätigkeit am Werktisch war nicht zu denken. „Jetzt hatte ich so einen tollen Job gelernt und musste ihn aufgeben!“

Vom Werktisch in den Einzelhandel

Sabine Füchtenhans entwickelt neue Pläne. „Ich wollte mich schon immer selbstständig machen“, erzählt sie. „Es sollte aber auf jeden Fall etwas Besonderes sein.“ Ein Geschäft für exquisite Bademoden und Dessous, das könnte es sein. Was der Einzelhandelskauffrau fehlt, ist Erfahrung im Textilbereich. Sie fährt nach Münster, stellt sich in ihrem Lieblings-Wäschegeschäft vor und “zack, hatte ich den Job”. Sie verkauft todschicke Dessous an Kunden mit ausgesuchtem Geschmack, wechselt ans eleganteste Modehaus am Platz, fährt mit zu Messen und lernt alles, was man  über Textilien und den Einkauf lernen kann

Vier Jahre später ist es so weit: 1996 eröffnet die Warendorferin das „Blue“ und stellt sich ihr eigenes kleines, hochwertiges Sortiment zusammen. „In dieser Größenordnung ist das allerdings unglaublich schwierig“, erzählt sie. „Die Auflagen von High-End-Labeln sind so hoch, dass man sie als kleiner Laden kaum erfüllen kann.“ Umsatzzahlen von 30.000 Euro pro Saison für eine einzige Marke lassen sich mit einer kleinen Boutique nur sehr schwer erwirtschaften. Mit der zunehmenden Konkurrenz aus dem Netz stieg der Druck. „Irgendwann hatte ich mehr Arbeit als Umsätze“, erinnert sich Sabine Füchtenhans. „Kundengespräche, Einkauf, Buchhaltung und Dekoration, alles hing an mir – ich konnte gar nicht mehr durchatmen.“ Selbst am Sonntag ging es nach dem Frühstück direkt ins Geschäft, zu tun war immer was. Der Wunsch nach einem sicheren Einkommen und geregelten Arbeitszeiten wurde von Jahr zu Jahr stärker. Die Geschäftsfrau streckt ihre Fühler aus und macht ein Praktikum in der stationären Altenpflege. „Das war erst mal so ein Austesten“, sagt sie. „Ich brauche eine Arbeit, in der ich mit Menschen umgehe. Deshalb konnte ich mir gut vorstellen, dass mir die Altenpflege liegt.“

In der Pflege zählt Respekt vor dem Menschen

Eine kleine Pflaume hätte den Berufswechsel beinahe jäh verhindert, denn der erste Tag als Praktikantin fing gleich mit einer Katastrophe an. Es war ein herrlicher Spätsommer, das reife Obst hing an den Bäumen und Sabine Füchtenhans schob eine ältere Dame im Rollstuhl durch den Garten. Als die Seniorin um eine Pflaume bat, dachte sie sich nichts dabei. “Kaum hatte sie die Frucht gegessen, ging es ihr richtig schlecht.” Niemand hatte der neuen Mitarbeiterin mitgeteilt, dass die Frau eine Magensonde hatte und weder essen noch trinken durfte. „Sie hätte sterben können“, sagt Sabine Füchtenhans. „Dann wäre das Thema Altenpflege für mich durch gewesen!“ Ihre Erleichterung war grenzenlos, als die Patientin am nächsten Morgen wieder ruhig in ihren Kissen lag, freundlich lächelte und von der Praktikantin besorgt wissen wollte, ob sie denn nach diesem Erlebnis gut geschlafen habe. „Das sind die Momente, in denen einem das Herz aufgeht!“, sagt Sabine Füchtenhans.

Westfälische Nachrichten/Foto: Monika Vornhusen

Westfälische Nachrichten/Foto: Monika Vornhusen

Die Geschäftsfrau entscheidet sich für den Weg in die Tagespflege („In der stationaären Altenpflege sind die Tage so durchgetaktet, da bleibt kaum Zeit für die persönlichen Bedürfnisse der Bewohner“) und beginnt mit dem Ausverkauf. Beim Malteser Hilfsdienst absolviert sie eine auf sechs Wochen verkürzte Ausbildung zur Pflege- und Betreuungsassistentin, steigt zunächst bei einem privaten Träger ein und arbeitet inzwischen auf einer Vollzeitstelle, mit geregelten Arbeitszeiten. „Diese Sicherheit genieße ich sehr“, stellt Sabine Füchtenhans fest. Den Wechsel in die Pflege fand sie jedoch schon auch krass. “Ich hatte immer mit edlen Materialien und lauter geschmackvollen Dingen zu tun”, erzählt sie. “Im Einzelhandel ist immer alles schön, schön, schön!” Jetzt erlebt sie das Gegenteil, jeden Tag wird sie mit Tod und Krankheit konfroniert. “Man macht sich schon viel mehr Gedanken darüber, was alles kommen kann.“ Manchmal ist Sabine Füchtenhans selbst erstaunt, wie leicht es ihr fällt, im Umgang mit den alten Menschen gelassen und fröhlich zu bleiben. Selbst an schwierigen Tagen gelingt es ihr immer, die Ruhe zu bewahren und geduldig zu bleiben. „Wenn ich etwas gelernt habe, dann ist es Respekt vor dem Menschen!“, betont sie.  Aber am Abend, wenn sie nach Hause kommt, dann braucht sie erst einmal Bewegung und viel frische Luft.

 

Fotos: privat/Monika Vornhusen

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